„Wer liest die AGB einer hilfreichen App?“

Vertrauensvorsprung hin, Datenskandale her – am Ende des Tages entscheidet der Nutzwert, ob eine App geliebt oder gelöscht wird. Ein Interview mit Dharmesh Mistry, Chief Digital Officer bei Temenos.


Wir sprachen mit Dharmesh Mistry auf dem Temenos Community Forum in Den Haag über Customer Experience, Mehrwerte und Kundenbindung. Dharmesh Mistry ist Chief Digital Officer bei Temenos. Dort treibt er die Entwicklung von Tools und KI-Lösungen voran, die die User Experience von Bankkunden maximieren.
Wir sprachen mit Dharmesh Mistry auf dem Temenos Community Forum in Den Haag über Customer Experience, Mehrwerte und Kundenbindung.

BANKINGNEWS: Wie gut sind Banken im Bereich der Customer Experience aufgestellt?

Dharmesh Mistry: Lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären: Ich war kürzlich vier Wochen auf Reisen. Nach meiner Rückkehr fand ich zwei Briefe meiner Kreditkartenfirma vor: Einer teilte mir mit, dass ich eine Rechnung nicht rechtzeitig gezahlt habe, und der andere, dass mein Kreditlimit um 2.000 Pfund erhöht werden könnte, da ich in den vergangenen vier Wochen viel Geld ausgegeben habe. So etwas verwirrt den Kunden. Und begründet liegt es in selbstgeschaffenen Silos. Bestünde ein ganzheitlicher Blick, den ich gerne als „single brain“ bezeichne, dann hätte der Absender des ersten Briefs gesehen, dass es sich um einen guten Kunden handelt, dem man einen Zahlungsverzug nicht sofort anmahnen muss. Der Kunde fühlt sich nicht wie ein Krimineller, sondern hat ein positives Erlebnis, weil man ihm einen Zusatznutzen anbietet. Dazu muss die Bank die Dinge, die sie kommunizieren kann, jedoch priorisieren. Am Ende geht es darum, den Kunden bei jeder Aktivität als Ganzes zu verstehen, ihn zu einem loyalen Kunden zu machen und so die Möglichkeit zu haben, mehr Produkte zu verkaufen. Das kann nur gelingen, wenn man eine Beziehung aufbaut.

Wie können Banken die immer wechselwilligeren Kunden binden?

Sie dürfen keine reinen Produktbeziehungen, sondern Kundenbeziehungen anstreben. Wenn ich mein Konto mit 18 Jahren eröffne, bin ich ein völlig anderer Mensch als mit 30 oder 50 Jahren. Meine Bedürfnisse ändern sich. Menschen geht es in erster Linie nicht um eine Karte oder einen Kredit. Sie möchten, dass ihr Leben einfacher wird. Deswegen ist die Customer Experience so wichtig. Bei einer Autofinanzierung sollte die Bank nicht nur einen Kredit ausstellen, sondern bei der Entscheidung helfen, was am sinnvollsten ist: Neuwagen oder Gebrauchtwagen, Kauf oder Leasing? Helft euren Kunden, gute finanzielle Entscheidungen zu treffen! Wenn ihr das schafft, behaltet ihr eure Kunden ein Leben lang.

Glauben Sie, dass die Kunden bereitwillig in eine umfassende Datenanalyse einwilligen?

Sie tun es definitiv nicht, wenn sie keinen Mehrwert erkennen. Aber wenn eine App hilfreich ist, wer liest dann die AGB? Banken müssen den Status erlangen, den andere Dienstleister bereits haben. Es ist bekannt, dass Facebook Kundendaten missbraucht hat. Aber wie viele Nutzer haben ihre Accounts gelöscht? Sie sagen sich: „Ich mag zwar nicht, was Facebook mit meinen Daten macht, aber ich möchte sehen, was meine Freunde treiben, ich möchte an Geburtstage erinnert werden und Fotoalben ansehen.“ Trotz des Wissens um Facebooks Datenskandale löschen sie die App nicht, weil sie einfach hilfreich ist. Banken müssen ihren Kunden beweisen, dass auch sie Mehrwerte schaffen, indem sie die Daten analysieren. Das geschieht heute zu selten, obwohl die Daten vorhanden sind. Damit verliert die Bank das Vertrauen der Kunden, die befürchten, dass die Daten nicht ihnen helfen, sondern der Bank.

„Helft euren Kunden, gute finanzielle Entscheidungen zu treffen!“

Sind andere Branchen im Bereich Customer Experience besser als Banken?

Definitiv. Wenn man bei Amazon ein Buch und einen Fernseher kauft, gibt es nur einen Checkout-Prozess. In einer Bank gibt es für jedes Produkt ein anderes Onboarding. Das ist ein simples Beispiel dafür, dass der Handel der Finanzindustrie voraus ist. Banken haben oft keine Ahnung, wie sie relevant im Leben des Kunden bleiben können. Die Spieleindustrie bewegt ihre Kunden dazu, über Add-ons hunderte Euro für eigentlich kostenlose Spiele auszugeben. Candy Crush hat Millionen von Nutzern. Ein kleiner Prozentsatz davon gibt eine Menge Geld für das Spiel aus. Und das wiegt die anderen nicht-zahlenden Nutzer auf. Die Spielehersteller kennen die Motive ihrer Spieler und nutzen das Wissen darüber etwa für Incentivierungen. Sie verändern das Spiel, um es dem Verhalten des individuellen Spielers anzupassen. Von diesen Mechanismen können Banken lernen. Warum sieht das Online-Banking für alle Kunden gleich aus? Wenn die Bank die Motive des Kunden kennt und versteht, kann sie ihre Angebote auf ihn zuschneiden. Das passiert heute aber nicht. Ein anderes Beispiel: Auf der Technologieseite hat die Glücksspielindustrie viele Probleme gelöst. Von der Art und Weise, wie umfangreiche Entscheidungen für viele Kunden innerhalb von Millisekunden getroffen werden, können Banken etwas lernen.

Gibt es auch Vorbilder aus der Finanzbranche?

Ant Financial macht es sehr gut. Ihre Strategie richtet sich immer darauf, Kunden zu verbinden und alle Lebenszyklen zu begleiten. Ebenso Revolut und Monzo: Sie helfen den Menschen dabei, besser zu verstehen, wofür sie ihr Geld ausgeben. Und sie helfen ihnen, ihr Geld verantwortungsbewusster zu verwalten. Sie verwandeln Daten in Mehrwerte für die Kunden.

Interview: Philipp Scherber