Die Zahlen lügen nicht, finanzielle Gleichberechtigung bleibt noch ein Zukunftstraum: sei es der medial präsente Pay Gap oder die Tatsache, dass Frauen seltener als Männer investieren (Investing Gap) und insgesamt ein Viertel weniger Vermögen besitzen (Wealth Gap). Auch wenn diese Geschlechterunterschiede zum einen historisch gewachsen sind, resultieren sie dennoch auch aus nicht berücksichtigten Bedürfnissen in der Produktentwicklung und -vermarktung aufgrund fehlender Diversität in der Finanzbranche – vor allem auf der Entscheidungsebene.
Finanzielle Gleichberechtigung ist neben seiner gesellschaftlichen Relevanz vor allem auch von wirtschaftlichem Interesse. So schätzt eine Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman aus dem Jahr 2020 den verpassten Umsatz für die weltweite Finanzindustrie jährlich auf 700 Milliarden US-Dollar – für eine traditionelle Branche ein erhebliches Potenzial.
Es geht um die Journey, nicht um Produkte
Aber welche Angebote braucht es nun, um dieses Potenzial zu heben? Erstmal bedarf es eines besseren Verständnisses der Schmerzpunkte und Bedürfnisse der Zielgruppe. Diese sind vor allem (empfundenes) fehlendes Wissen und damit einhergehend ein geringeres finanzielles Selbstbewusstsein. Zwar gibt es heute wahnsinnig viele Informationen, aber im Überfluss. Dieser Overload führt zu Angst vor Fehlentscheidungen und letztlich zum Aufschieben finanziellen Handelns. Es braucht daher vielmehr kurze, verständliche Informationen, die zur eigenen Lebenssituation passen und eine Schritt-für-Schritt- Begleitung bieten.
Allerdings denkt die Branche nach wie vor zu stark in Produktkategorien und reicht so Informationen und Angebote dar, während Kunden und Kundinnen ihre persönlichen Ziele fokussieren – mit Finanzprodukten als Mittel zum Zweck. Es braucht folglich eine Umstellung auf ein Journey-Denken mit einer guten Portion Empathie für andere Lebensumstände und Bedürfnisse.
Wie geht Women-Centric Design für Finanzen?
Viele Untersuchungen zeigen Unterschiede in Bedürfnissen und Finanzverhalten zwischen den Geschlechtern. Deswegen funktioniert die Argumentation, Finanzen seien genderneutral, nur bedingt. Andere Produkte und Branchen, von Medienangeboten bis zur Automobilindustrie, machen bereits vor, dass Unterschiede sehr wohl adressiert werden müssen: Autosicherheitsgurte wurden beispielsweise bis 2011 nur an männlichen Puppen getestet, was die Verletzungsgefahr von Frauen bei Unfällen deutlich erhöhte. Medikamente wurden nicht ausreichend an Probandinnen erforscht. Und auch die Erotikbranche erfindet sich seit einigen Jahren neu, um besser auf weibliche Bedürfnisse einzugehen.
Die Finanzbranche hat, wie eingangs erwähnt, erste Schritte unternommen. Aber sind Landing Pages und Webinare speziell für Frauen ausreichende Lösungen? Eher nicht. Es braucht mehr Women-Centric Design, also ein Produktdesign, das Frauen mit ihren Bedürfnissen, Herausforderungen und Lebensrealitäten stärker in den Mittelpunkt stellt. Statt Produkte pink anzumalen, werden holistische, für alle nutzbare Angebote geschaffen, die bislang übersehene Bedürfnisse von Frauen inkludieren. In der Umsetzung werden dabei sechs definierte Guidelines, wie Sicherheit, non-lineare Lebensverläufe oder Community, berücksichtigt.
Konkret auf Finanzprodukte und Beratungsleistungen übersetzt, heißt das: Neben einer angepassten Ansprache (was bereits bei der Bildsprache beginnt) und der Sensibilisierung von Beraterinnen und Beratern sollte sich die Informationsdarstellung von der Produktkategorisierung lösen und sich auf Lebensrealitäten und Ziele der Kundinnen fokussieren. Zudem sollten Angebote im Austausch mit Kundinnen iterativ entwickelt werden, wobei Empathie als Kernfeature und Schlüssel für individuelle Produkte in digitalen Lösungen integriert wird.
Am Ende profitieren alle
Wie gute, frauenzentrierte Produkte funktionieren, machen aktuell erste FinTechs auf dem US- und UK-Markt vor – und das nicht nur hinsichtlich der Kundinnenakzeptanz, sondern auch mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit. Warum also nicht die Chance ergreifen, bevor diese in den deutschen Markt einsteigen? Am Ende ist finanzielle Gleichberechtigung nicht nur für Frauen, sondern für alle. Denn von mehr Wohlstand profitiert die Gesellschaft und von mehr finanziellen Handeln auch die Finanzbranche.

Selina Haupt
Selina Haupt ist Co-Gründerin von moneten.