„In vielen Banken ist eine ganzheitliche Beratung noch nicht der Standard“

In den beiden vorausgegangenen Ausgaben haben wir bereits über die DIN-Norm für die Finanzanalyse berichtet, welche in diesen Tagen veröffentlicht wird. Im Gespräch mit Kai Fürderer und Markus Gauder (QIDF) haben wir einen Blick hinter die Kulissen des Normierungsausschusses erhalten.


Die Leiter der Gesellschaft für Qualitätsentwicklung in der Finanzberatung (QIDF): Markus Gauder und Kai Fürderer
Die Leiter der Gesellschaft für Qualitätsentwicklung in der Finanzberatung (QIDF): Markus Gauder und Kai Fürderer

BANKINGNEWS: Wann hat der Prozess zur Entwicklung der DIN-Norm 77230 begonnen und vom wem ging die Initiative aus?

Kai Fürderer (KF): Eine DIN-Norm basiert meist auf einer sogenannten DIN SPEC. Aus der DIN SPEC 77222 wurde innerhalb von vier Jahren mit knapp 30 stimmberechtigten Mitgliedern die DIN-Norm 77230 entwickelt. Initiator war das Institut DEFINO und dessen Vorstand Dr. Klaus Möller, welcher als Obmann für den Normierungsausschuss fungierte. Wir haben aus der QIDF-Gruppe den stellvertretenden Obmann gestellt, um unseren Input einzubringen und das Projekt voranzutreiben.

Wer war noch am Normierungsprozess beteiligt?

KF: Von Bankenseite waren unter anderem die Deutsche Bank und die Commerzbank sowie als Vertreter der Genossenschaften die Volksbank Emmerich-Rees dabei. Außerdem haben sich große Versicherer wie Zurich und Allianz, der Verbraucherzentrale Bundesverband, Wissenschaftler, Unternehmensberater und Maklerverbände beteiligt. Es wurden alle Marktteilnehmer eingeladen, am Entwicklungsprozess teilzunehmen.

„Die Norm trägt eine klare Handschrift der Versicherer“

Hat Ihrer Meinung nach jemand in dieser Runde gefehlt?

KF: Leider waren der DSGV und der BVR in der Debatte eher abwartend und haben keinen ständigen Vertreter für den Ausschuss abgestellt. Für die Akzeptanz wäre dies natürlich hilfreich gewesen. Wir können jedoch feststellen, dass das Ergebnis zu über 90 Prozent die Pyramide des Sparkassen-Finanzkonzepts oder das genossenschaftliche Beratungskonzept widerspiegelt. Es ist keine Rolle rückwärts, sondern eine Bestätigung der Philosophie von Sparkassen und Genossenschaftsbanken.

„Wir dürfen den Kunden nicht vollversichert in die Altersarmut schicken“

Gab es Unstimmigkeiten im Normierungsausschuss?

KF: Zwischen den Banken und Versicherungen gab es den Disput, wie existenziell einige Versicherungsarten, wie beispielsweise Krankenzusatz-, Auslandskranken- und Unfallversicherung, seien. Die endgültige Fassung, welche letztlich einstimmig angenommen wurde, trägt eine klare Handschrift der Versicherer. Sie ist etwas versicherungslastiger, als die Banken es sich gegebenenfalls gewünscht hätten. Diese müssen sich nun die Frage stellen, wie viele Bedarfsfelder sie dem Kunden darbieten müssen, um der DIN-Norm zu entsprechen. Wir plädieren für eine pragmatische Interpretation der Vorgaben, um den Kunden nicht vollversichert in die Altersarmut zu schicken. Wenn er alle angebotenen Versicherungen abschließt, bleibt mit 67 kein Geld mehr zum Leben.

„Wenn man sich rein auf die Genialität des einzelnen Beraters verlässt, muss der Kunde hoffen, auf den richtigen zu treffen“

Kritiker monieren, dass in der Norm Branchenstandards enthalten sind, die ohnehin schon selbstverständlich angewendet werden. Außerdem gehe die Norm an der Realität bei spezialisierten Anbietern vorbei.

KF: Niemand muss sich der Norm unterwerfen. Wenn der Kunde weiß, dass er bei einem Spezialmakler oder bei der Finanzierung im Autohaus keine vollständige Finanzanalyse erwarten kann, dann wird er sich nicht schlecht beraten fühlen. Wir sehen jeden Tag in unserem Bankentest, dass der Kunde in einer Bank heute in der Hälfte aller Fälle nicht auf eine existenzielle Versorgungslücke wie beispielsweise eine fehlende Berufsunfähigkeitsversicherung hingewiesen wird. Wenn nun einige Berater die Nase rümpfen, weil sie seit 20 Jahren schon nach den Vorgaben der neuen Norm beraten, ist das doch eine schöne Bestätigung ihrer Arbeit. Aber in vielen Banken ist es eben noch nicht der Standard. Sie versprechen eine ganzheitliche Beratung, die bei genauem Hinsehen gar keine ist. Jetzt ist endlich definiert, was Ganzheitlichkeit heißt.

Löst die Norm die Probleme in der Finanzberatung?

Markus Gauder (MG): Es gibt zwei Aspekte, bei denen ich als Kunde eine erlebbare Qualität spüre. Das ist zum einen die Fähigkeit des Gegenübers, mich auf eine ganzheitliche Analyse mitzunehmen. Zum anderen sind es die Prozesse, die das Institut dem Berater mitgibt. Wir erleben immer wieder, dass der Anspruch, für einen Kunden bei zehn verschiedenen Beratern einer Organisation die gleiche „Blutbildanalyse“ zu erstellen, nicht erfüllt wird. Wenn man sich rein auf die Genialität des einzelnen Beraters verlässt, muss der Kunde hoffen, auf den Richtigen zu treffen. Ob die DIN dieses Problem löst, wird sich zeigen. Aber es ist unumgänglich, einen einheitlichen Prozess zu definieren. Und dafür bietet die Norm ein Grundgerüst, an dem man sich orientieren kann.

„Wenn ich einen ganzheitlichen Ansatz leben möchte, kann ich nicht nach Einzelzielen und Kampagnen steuern“

Wie ist die Resonanz der Banken, die DIN-Norm in ihrem Haus umzusetzen?

MG: Offen für die Diskussion ist jeder, aber die Bereitschaft, sich intensiv mit der Norm auseinanderzusetzen und alle Punkte im Detail zu erfüllen, variiert.

KF: Einige kleine und mittlere Institute müssen sich die Frage stellen, ob sie überhaupt in der Lage sind, die DIN-Norm zu 100 Prozent umzusetzen. Es bedarf eines hohen Schulungsaufwands, bis jeder Berater zu allen Versicherungsprodukten im Detail beraten kann. Hier kommen wir wieder zum Stichwort Pragmatismus. Es gibt auch Anbieter, die eine teilweise Erfüllung der DIN zertifizieren. Die ausgeklammerten Kategorien werden dem Kunden dann transparent aufgezeigt.

Mit welchen Mitteln befähige ich als Bank meine Berater, die Norm zu erfüllen?

KF: Nur mit Technik und einheitlichen Prozessen. Mit einem Blatt Papier und einem Taschenrechner schaffe ich es nicht, dieselbe Logik bei hunderten von Beratern zu implementieren. Gleiche Inputdaten müssen immer zum gleichen Output führen und das System muss für die Qualität bürgen.

Sehen Sie ein Spannungsfeld zwischen definierten Vertriebszielen und einer bedarfsgerechten Beratung?

MG: Definitiv. Wenn ich einen ganzheitlichen, konsequent auf den Kunden ausgerichteten Ansatz leben möchte, kann ich nicht nach Einzelzielen und Kampagnen steuern. Die Zielsysteme, die Segmentierung der Kunden und die richtigen Ansprechpartner müssen überdacht werden. Die Bank muss definieren, wer fallabschließend für ein Produkt verantwortlich ist. Wenn der Berater als Generalist aufgrund einer DIN-Analyse das Thema Arbeitskraftabsicherung als wichtigste Bedarfslücke identifiziert, aber kein Know-how in diesem Feld vorweisen kann, darf er es nicht einfach überspringen und stattdessen ein Produkt vertreiben, das er fachlich beherrscht. Wir empfehlen, auf Gesamtertragsziele statt auf produkt- oder spartenorientierte Ertragszahlen zu setzen. Somit eröffne ich dem Berater Tür und Tor für die ganzheitliche Analyse. Die umfängliche Kenntnis über die Bedarfsfelder ermöglicht, Up- und Cross-Selling-Potenziale zu heben. Das bringt viele komplexe Fragestellungen mit sich. Mit diesen hätte man sich jedoch schon lange beschäftigen müssen, wenn man sich am Markt mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz etablieren möchte.

„Auch der digital-affine Kunde stößt bei Finanzthemen an seine Grenzen“

Der Vertrieb findet immer häufiger über digitale Kanäle statt. Lässt sich die Norm im Rahmen eines Multikanalansatzes anwenden?

MG: Hier greift das Vorbild Amazon: Wenn sich der Kunde für ein Einzelprodukt entscheidet, kann ihm die Bank anzeigen, dass es sinnvoll wäre, sich außerdem über die Produkte A und B Gedanken zu machen. So kann sie dem Kunden auch digital die essenziellen Themen mit auf den Weg geben. Aber auch wenn er kein konkretes Anliegen hat, kann der Kunde ohne den Besuch bei einem Berater eine ganzheitliche Analyse seiner Situation erstellen lassen. Wir stellen jedoch fest, dass auch der digital-affine Kunde bei Finanzthemen schnell an seine Grenzen stößt. Daher muss ab einem bestimmten Punkt ein Experte zur Verfügung stehen.

Sie haben im Jahr 2017 das Fintech FinGOAL! gegründet – was hat es damit auf sich?

MG: Qualitätsanalysen können nur prozessunterstützt erfolgen. FinGOAL! bildet diesen Prozess digital ab und unterstützt den Berater in der gesamten Standardisierungskette. Wir erleben immer wieder, dass Berater, die mit den Standardprozessen der Rechenzentren nicht zufrieden sind, auf papierhafte Prozesse zurückgreifen. Das ist alles andere als effizient. Sie erfassen Vertriebserfolge und Kundentermine in verschiedenen Systemen und Subsystemen und bilden die Customer Journey des Kunden so häufig mit zehn unterschiedlichen Prozessen ab. Unser Ziel war es, alles in einem Frontend mit Schnittstellen zu allen Systemen zu vereinen – als „Sales-Cockpit“. Wir haben einen beraterzentrierten Ansatz, mit dem wir die Alltagsprobleme der Berater beseitigen möchten. Nur wenn das gelingt, spürt auch der Endkunde eine Verbesserung.

Was erwartet uns noch hinsichtlich Normierung der Finanzberatung?

KF: Geplant ist eine Norm für Gewerbekunden, an der wir aber nicht aktiv mitwirken werden. Wir haben heute bereits einen Gewerbekundenprozess bei FinGOAL!, um die Chancen der Digitalisierung in der Beratung zu nutzen. Eine Lehre aus dem Normierungsprozess ist, dass wir nicht auf die Norm warten, sondern bereits heute Standardisierungen vornehmen sollten, die zu einer besseren Analyse und Beratung führen. Nur das, was funktioniert und beim Endkunden ankommt, wird Bestand haben – ob da nun DIN draufsteht oder nicht.

Was sagen Bankvorstände zur DIN-Norm? Lesen Sie hier unser Interview mit Wolfgang Kuhn (Südwestbank), Martin Hettich (Sparda-Bank Baden-Württemberg) und Werner Braun (Commerzbank).