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„Geschwindigkeit ist jetzt gefordert“

Gottfried Rüßmann, Vorstandsvorsitzender der DEVK, spricht mit Thomas Friedenberger und Thorsten Hahn über digitale Plattformen und Bancassurance, über Design Sprints und Pitch Days sowie über echt ätzende Leitungswasserschäden.


Versicherung heute. Gottfried Rüßmann spricht unter anderem über den Unterschied zwischen Versicherungsgeschäft online und offline, Bancassurance und digitale Plattformen.

BANKINGNEWS: Herr Rüßmann, haben Sie das Gefühl, dass sich das Rad von Digitalisierung, Disruption und neuen Wettbewerbern immer schneller dreht?
Gottfried Rüßmann: Das glaube ich grundsätzlich schon. Wegen der aktuellen Rahmenbedingungen fühle ich mich ein bisschen wie in einer Broker-Welt. Das hat natürlich mehr mit der Corona-Krise zu tun. Aber die Welt dreht sich schnell und morgen kann alles anders sein. Insofern ist Dynamik angesagt.

Was ändert sich in diesen Zeiten für Sie und Ihr Unternehmen?
Ein Beispiel, das mich persönlich betrifft – und das wird bei den Kollegen in der Bankindustrie nicht anders sein: Als das Drama einsetzte, waren die Terminkalender innerhalb von zwei Stunden leergefegt. Heute machen wir täglich Video- und Telefonkonferenzen. Davon ist die gesamte Finanzbranche betroffen. Bei uns trifft das auf ein Traditionsunternehmen mit einer 135-jährigen Geschichte und führt zu einem unglaublichen Innovations- und Unternehmergeist in der Mannschaft. Vielleicht kommt uns zugute, dass wir als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit einen hohen Zusammenhalt haben. Das gibt einen sicheren Handlungsrahmen für Mitarbeiter, Kunden und Partner. Es ist eine spannende Zeit und auch sehr spannend zu sehen, wie sich Innovationsgeschwindigkeit in einer hektischen Situation dreht und Themen wie Digitalisierung, Disruption und neue Wettbewerber vorübergehend etwas in den Hintergrund treten.

„Alles andere braucht eine Bedarfsanalyse und Bedarfsweckung“

Sie sagen, es gibt mehr Innovationskraft. Sind es wirklich innovative Produktthemen oder eher Kollaborationsthemen?
Beides. Jetzt ist Geschwindigkeit gefordert. Im Vorstand haben wir ein Daily-Stand-up und entscheiden permanent Themen rund um Zusammenarbeit, um technische Möglichkeiten, die wir schaffen wollen, auch in Richtung Kunde. Interessant, dass Sie das fragen, denn ich hatte eine Telefonkonferenz mit den Sparda-Banken und produktseitig tut sich relativ wenig in diesem Kontext. Logischerweise sind Bereiche, die rund um Corona eine Rolle spielen, also Kranken- oder Rechtsschutzversicherung, stark gefordert. Wir haben heute 60 Prozent unserer Belegschaft im Homeoffice und das mit kompletter Telefonie für Kunden erreichbar. Das hätten wir uns vor kurzem nicht träumen lassen.

Waren Sie aus Ihrer Führungsrolle heraus skeptisch gegenüber Homeoffice?
Nein, denn ich glaube, dass Menschen im Homeoffice produktiver sind, als wenn sie sich stationär zusammenfinden in der normalen Sachbearbeitung. Diese Einstellung hatte ich übrigens schon immer. Das ist aber nicht durchgängige Meinung in der Führungsmannschaft. Sozialkontrolle über Augenkontakt ist das eine – das andere ist, Menschen ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie in Ruhe arbeiten können. Es gibt genügend Führungskräfte in der Finanzindustrie, die sagen: „Damit komme ich nicht klar, weil ich auch über Augenkontakt führe“. Und wenn sie dauernd Telefonkonferenzen haben, dann rauscht ihnen auch das Ohr. Aber jetzt wurden Prozesse geschaffen, neue Techniken eingesetzt und Betriebsvereinbarungen hinterfragt – und das alles in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Das hätten wir vorher in unserer verkopften Prozesswelt nicht auf die Straße bekommen. Ich glaube, das ist der entscheidende Unterschied.

Sie haben eine Zukunftswerkstatt, das interne Innovation Lab. Woran arbeiten Sie dort – auch unabhängig von Corona?
Eine gute Frage und sehr passend, denn wir stehen dort vor einem neuen Zyklus. Wir haben alle Mitarbeiter eingeladen, Ideen einzubringen, die in der Zukunftswerkstatt weiter bearbeitet werden sollen. Diese Ideen, und ich rechne mit hunderten, drehen sich alle um den Kunden. Das ist die Anforderung. Die drei besten werden wir in einen Design Sprint und einen Pitch Day bringen, bei dem wir auswählen, was wir realisieren wollen. Die Design Sprints in der Zukunftswerkstatt laufen üblicherweise fünf Tage. Die Truppe, die sich damit beschäftigt, das sind junge Menschen aus der Organisation. Sie engagieren sich fünf Tage sehr stark und machen auch Feldstudien, von der Idee bis zum Produkt. Da soll es um digitale Lösungen gehen. Die Zukunftswerkstatt hat aber aus vorangegangenen Zyklen noch einige Ideen, die im Rollout sind. Leider haben wir ein Thema wegen Corona pausieren müssen, das Projekt FAMARI. Dort wollten wir Kunden, die werdende Eltern sind, ein Rundum-Paket zur Familienvorsorge anbieten. Wir wollten Hebammen, Krankenversicherer, Ärzte und Kindergartenexperten für eine Infoveranstaltung zusammenbringen. Über 50 Anmeldungen aus unserem Kundenkreis hatten wir für die Infoveranstaltung, die wir nachholen werden, sobald es die Situation zulässt. Das ist ein Beispiel, mit dem man in der Kundschaft Nutzen stiften kann.

Wird daraus ein neues Produkt?
Nein. Es geht nicht um Geld, nicht um Versicherung, sondern darum, Menschen beim Thema Familie Orientierung zu geben. Bevor meine Tochter geboren wurde, stand ich in drei Kreissaal-Besichtigungen. Danach war ich so schlau wie vorher. Ich hatte den Eindruck, die anderen konnten von Geburtsstellungen bis Geburtsräume alles herunterbeten – nur ich nicht. Das ist einfach ein Thema, bei dem Menschen Orientierung brauchen.

„Das Zusammenspiel der Kanäle ist das Entscheidende“

Sie arbeiten auch an einer digitalen Plattform zur Produktentwicklung. Was machen Sie dort?
Schwerpunkt bei uns als großer Schaden- und Unfallversicherer ist derzeit das Thema Smart Home. Wir sind von der Herkunft her Eisenbahnversicherer und im Eisenbahnerbereich gibt es Wohnungsbaugenossenschaften, die bei uns versichert sind. Wir wollen an automatisierten Wohnkonzepten mitarbeiten. Da haben wir als Versicherer eine Menge Bezugspunkte für Mieter, aber auch für die Genossenschaften als Eigentümer.

Worum geht es genau?
Um den Test von Smart-Home-Aktivitäten, von Leckage-Systemen bis hin zu Kamera- und Schutzsystemen. Das hat natürlich auch mit Versicherung zu tun. Eine der Hauptleistungsarten im Wohngebäude-Versicherungsgeschäft sind Leitungswasserschäden. Wenn wir elektronische Leckage-Systeme in die Produkte installieren können, hat das eine unmittelbare Relevanz für das Pricing solcher Produkte. Das ist eine interessante Symbiose, die da entsteht. Auf der einen Seite kann man das Versicherungsprodukt billiger machen und auf der anderen Seite kann man dem Kunden eine Hilfestellung zuteilwerden lassen. Wasserschäden sind ziemlich ätzend. Wer das erlebt hat, der weiß, wovon ich rede. Wasserschäden schleichen sich durch die Leitungen und tauchen dann irgendwann an irgendeiner Wand auf, obwohl dort vielleicht gar nicht die Ursache ist. Diagnostisch kann man das begleiten. Deswegen erstellen wir eine Plattform, weil wir keine Smart-Home-Geräte herstellen wollen, sondern solche Themen in unsere Produktidee integrieren. Der Test mit den Baugenossenschaften läuft. Wird das gut angenommen, können wir uns das auch im Endverbraucher-Produkt vorstellen.

Wie könnte eine Plattform-Lösung in anderen Bereichen aussehen?
Ein Beispiel wäre das Auto. Das ist sicher genauso spannend, aber da haben wir eine große Heterogenität der Herstellersysteme. Das macht eine Plattformlösung schwierig, das muss man deutlich sagen. Wenn Sie mit Mercedes über das Abgreifen von Fahrdaten diskutieren, kommt ein Vertragswerk mit 150 Seiten heraus. Und danach machen Sie das mit VW und fangen wieder ganz von vorne an. Wir sehen eher im Smart-Home-Bereich ein paar Marktplayer, die eine hohe Relevanz haben und Standards im Markt setzen. Das ist natürlich viel einfacher.

„Die Versicherungen haben es da einfacher als die Banken“

Wie gehen Sie damit um, dass immer mehr Unternehmen Einzelrisiken versichern und versuchen, den Kunden direkt beim Risiko abzugreifen?
Wir haben viele Kunden, die sich online informieren, besonders bei Plattformanbietern wie CHECK24. Wir wissen aber, dass weit über die Hälfte derjenigen, die sich dort informieren, nachher in unseren Geschäftsstellen abschließt. Das hat Konsequenzen hinsichtlich der Produktangebote. Wenn Sie Produkte zwischen Online- und Offline-Welt differenzieren, haben Sie ein Problem. Ich denke, das ist mittlerweile auch Common Sense in der Branche. Sie müssen online und offline im Prinzip das gleiche Angebot haben. Das ist nun einmal von den Zahlen her die Realität.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Wir sehen sehr wohl, dass sich unsere Online-Abschlüsse deutlich erhöhen. Wir haben mit freeyou auch ein Online-Unternehmen in den Markt gebracht, das in der Auto- und Fahrradversicherung unterwegs ist und Wachstumsraten schreibt. Ich bin aber vorsichtig beim Thema Vertriebswegeverschiebungen. Hier ist weniger in Bewegung als in der Bankenindustrie. Und woran liegt das? Versicherungsprodukte werden verkauft und nicht gekauft. Wir sind nach wie vor mit einem Angebotsprodukt unterwegs, Ausnahmen wie Kfz-Haftpflicht oder Autoversicherungen generell mal außen vorgelassen. Die Versicherungsdichte in Deutschland ist entstanden, weil Menschen das verkauft haben und nicht, weil Menschen es gekauft haben. Natürlich ist eine Autoversicherung ein Produkt, das an ein Auto angehängt werden kann, also online gekauft werden kann. Aber alles andere braucht eine Bedarfsanalyse und Bedarfsweckung. Und die finden häufig eben nicht online, sondern offline statt. Insofern ist das Zusammenspiel der Kanäle das Entscheidende.

Und bei Banken?
Da wurden eher Prozesse optimiert, um Kunden in die Onlinewelt zu bringen. Dann hat man sich gewundert, dass keiner mehr in die Filialen kam und hat sie geschlossen. Dann hat man auch noch die Produkte eingedampft, zum Beispiel Sorten- oder Börsengeschäfte. Man hat sich in dem strukturierten Beratungsprozess im Prinzip zu einer Vermittlungseinheit für Fondsprodukte entwickelt. Das ist das Dilemma, aus dem man nicht mehr leicht herauskommt. Wir profitieren davon, dass wir Produkte von der Vorsorge bis zu unmittelbaren Schutzabdeckungen von Situa­tionen anbieten. Wir haben es da einfacher als die Banken, weil wir die ganze Bandbreite des privaten Lebens abdecken können.

„Wo sicher einiges entwickelt wird, ist beim Thema Cyber“

Sie haben vier Millionen Kunden. Wo wird in Zukunft das Wachstum herkommen?
2019 hatten wir das beste Vertriebsjahr unserer Geschichte. Stark gemacht haben uns die klassischen Kompositprodukte. Nicht die neuen Dinge haben die Menge bewegt, sondern in der Breite hat sich das Angebot nach vorne entwickelt, in der Rechtsschutz- wie in der Autoversicherung, in den Klassikern Hausrat, Haftpflicht, Unfall – mit teils zweistelligem Wachstum im Neugeschäft. Keine Frage, Produktnuancierungen wird es immer geben, aber die Innovationskraft bei Produkten ist in unserer Industrie ja durchaus eingeschränkt, wir decken mittlerweile fast alles ab. Wo aber sicher einiges entwickelt wird, ist bei dem Thema Cyber.

Und Bancassurance erlebt derzeit eine gewisse Renaissance …
… (lacht) Wir sind vorbelastet, denn wir haben eine Kooperation mit zehn Sparda-Banken. Das liegt daran, dass wir aufgrund des Eisenbahner-Umfelds gemeinsame Wurzeln und Kunden haben.

Wie sieht die Zusammenarbeit von Versicherungen und Banken hier aus?
Retailbanken sind durch die Zinsentwicklung im Kerngeschäft unter Druck geraten. Da sie mit manchen Produkten Minus einfahren – etwa mit einem nicht ordentlich bepreisten Girokonto – sind sie im Vermittlungsgeschäft gefordert. Die Häuser, die eng mit Versicherern verwoben sind, wie es bei uns der Fall ist, machen natürlich mehr. Aber machen wir uns nichts vor, wir sind nur einer von vielen Partnern. Ich glaube, bei Partnerschaften steht in den Retailbanken die Fondsindustrie an erster Stelle, an zweiter Stelle vielleicht Versicherung und an dritter Stelle Bausparen. Das war es auch schon. Ich sehe nicht, dass sich das nachhaltig ändert oder spartenübergreifende Fusionen im Raum stehen.

„Ich sehe nicht, dass spartenübergreifende Fusionen anstehen“

Banking und Versicherung sind sehr stark IT-getrieben. IT-Experten gehen aber lieber zu Google, Apple oder zu einem Fintech. Ist eine DEVK attraktiv für diese Talente?
Das ist tatsächlich ein Dauerbrenner bei uns. Der Fachkräftemangel macht auch vor unserer Branche nicht halt. Da ist es logisch, dass Jobsuchende Versicherungen nicht als Arbeitgeber Nummer eins auf dem Schirm haben. Aber uns ist in den letzten Monaten doch eine Menge gelungen. Und woran liegt das? Ich glaube, dass der Wert von Sozialleistungen und Benefits bei jungen Leuten durchaus eine Rolle spielt. Wichtig ist auch die Aufgabe im Job: Ist sie spannend? Erfüllt sie mich? In welchem Umfeld kann ich dort wirken und was wird mir angeboten? Ich glaube, da können wir oder andere Versicherer und Banken mit attraktiven Benefits punkten. Aber es ist nicht damit getan, dass wir eine betriebliche Altersversorgung anbieten, die in 30 oder 40 Jahren eine tolle Rente garantiert. Wir müssen eine Menge anderer Dinge tun, zum Beispiel Familienunterstützung. Ich werde auch danach bezahlt: Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit sind Bestandteil des Bonus für leitende Angestellte bei uns. So haben wir – wegen der Corona-Krise – zum Beispiel für Familien mit Kindern unter zwölf Jahren zunächst fünf Tage Sonderurlaub gewährt.

Das kam sicher sehr gut an, oder?
Ja, das betrifft 700 Menschen im Unternehmen. Leute standen durch die Corona-Krise plötzlich vor einem Organisationschaos. Deshalb haben wir Mitarbeiter gefragt, ob sie überschüssige Zeit auf ihren Zeitkonten Mitarbeitern schenken, die unbedingt Zeit brauchen, um sich besser zu organisieren. Das Ergebnis: 500 Leute haben sich spontan zusammengefunden und Zeit gesammelt, um ihren Kollegen zu helfen. Und jetzt frage ich Sie: Bei welchem Start-up oder welchem Big-Tech-Unternehmen wäre Ähnliches passiert? Damit können wir punkten.

Interview: Thomas Friedenberger, Thorsten Hahn

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