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Mr. Spock, übernehmen Sie… wenn virtuelle Realität das reale Bruttoinlandsprodukt beeinflusst

Nie lagen Science-Fiction und Realität so nah beieinander wie heute. Immer mehr Menschen flüchten sich vor dem grauen Alltag in virtuelle Welten mit ganz eigenen ökonomischen Systemen, treffen Freunde, kaufen ein und konsumieren verschiedene Güter. Langfristig kann das Auswirkungen auf die reale Wirtschaft haben.


Bildnachweis: iStock.com/sorbetto

Kultur und Technologie interagieren schon immer miteinander, geben Ideen, entwickeln diese weiter, greifen Entwicklungen vor. Manches, was in Science-Fiction-Filmen der Vergangenheit skizziert wurde, kommt einem heute noch immer fantastisch, manches andere dagegen seltsam aktuell vor. Man denke hier nur an den Computer HAL (in Anlehnung an das Akronym IBM) in dem bahnbrechenden Film „2001: Odyssee im Weltraum“ aus dem Jahr 1968, der sich im Verlauf der Handlung verselbstständigt und gegen den Menschen richtet – ein überraschend pointierter Vorgriff auf aktuelle Diskussionen um die Tragweite und Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz.

Gleiches gilt für Technologien virtueller Realität. So wird in den „Star-Trek“-Serien ein sogenanntes Holodeck als ein Raum dargestellt, in dem beliebige virtuelle Welten simuliert werden können. Im Unterschied zu tatsächlich existierenden Technologien der virtuellen Realität jedoch nicht nur visuell und akustisch, sondern auch haptisch realistisch, so dass beim Benutzer ein Gefühl völligen Eintauchens erzeugt wird. Natürlich sind wir aktuell noch meilenweit davon entfernt, auf einem derartigen Holodeck zu leben. Die diesbezüglichen Hoffnungen waren in der Vergangenheit wie bei der Künstlichen Intelligenz zumeist größer als die tatsächliche technologische Entwicklung. Dennoch ist festzuhalten, dass Technologien und Anwendungen synthetischer Welten oder – um den populäreren Begriff zu benutzen – virtueller Welten bzw. virtueller Realitäten auf dem Vormarsch sind.

Virtuelle Welten können reale Wirtschaft nachhaltig beeinflussen

Nicht nur Methoden Künstlicher Intelligenz und Roboter werden unser Leben verändern, sondern auch Methoden der virtuellen Realität bzw. synthetische Welten. Dabei handelt es sich um computergenerierte dreidimensionale Räume, die dazu entworfen sind, möglichst viele Menschen zu bestimmten Aktionen zu animieren. Synthetische Welten manifestieren sich vor allem in sogenannten MMORPG (Massive Multi-Player Online Role-Playing Games).

Die zugrundeliegenden Technologien haben auf lange Sicht das Potenzial, die reale Wirtschaft tiefgreifend zu beeinflussen. Zum einen, weil sie bereits jetzt im Bildungssektor oder der Automobilindustrie zum Einsatz kommen und deren Entwickler somit zunehmend an Marktbedeutung gewinnen. Zum anderen, und dies darf nicht unterschätzt werden, weil solche synthetischen Welten einen enormen Effekt auf die emotionalen Erfahrungen der Menschen haben. Sie besitzen ein Eigenleben und eine eigene Ökonomie – genauso wie Facebook mit über eine Mrd. registrierten Nutzern quasi wie ein eigenes Land bzw. eine eigene Ökonomie funktioniert. Und Marc Zuckerbergs Plattform ist nicht alleine: Andere vergleichbare Netzwerke existieren in Russland, Brasilien und China. Das Gleiche gilt für synthetische Welten. Wie groß diese synthetischen Welten effektiv sind, ist nicht bekannt. Dies liegt aber nicht an zu wenig, sondern an zu vielen Informationen und Daten, da Computer eben für die Generierung solcher synthetischen Welten verantwortlich sind.

Das Problem bei der Messung ist, dass diese Daten höchst disaggregiert generiert und nur sehr schwierig gemessen werden können. Die EZB kam 2012 in einem Arbeitspapier zu dem Schluss, dass im Euroraum effektiv in den Jahren 2008 bis 2010 zwischen 200 Mio. EUR und 10 Mrd. EUR für virtuelle Spiele und virtuelle Währungen ausgegeben wurde. Die Unsicherheitsspanne ist damit immens. Solche Größenordnungen stellen aber nur die Spitze des Eisbergs dar. Schätzungen zeigen, dass der Handel innerhalb dieser Welten schon im Jahr 2005 ein jährliches Volumen von rund einer Mrd. USD ausmachte. 2016 betrugen die Konsumausgaben der US-Haushalte für Videospiele über 30,4 Mrd. USD. Jede dieser synthetischen Welten ist zumeist ein eigener Währungsraum, der wiederum über Tauschbörsen wie z.B. Ebay mit herkömmlichen Währungen interagiert.

Was ist so fundamental an synthetischen Welten?

Zum ersten Mal in der Geschichte hat die Menschheit nicht nur eine Welt, sondern mehrere, in denen sie mental leben kann, neue Lebensformen können nach Belieben mental kreiert werden. Die menschlichen Systeme in der realen Welt sind vergleichbar mit den menschlichen Systemen in den synthetischen Welten, in denen ebenfalls gehandelt, kommuniziert und auch Krieg geführt wird. Folglich beeinflussen Institutionen, welche in der virtuellen Welt erschaffen werden, perspektivisch auch die Institutionen in der realen Welt. So bewirkte die Entwicklung der virtuellen Währung Bitcoin, dass auch die Zentralbanken über die Schaffung von digitalen Währungen nachdenken.

Anwendungen von Technologien virtueller Realität sind insbesondere durch die Spieleindustrie vorangetrieben worden. Inzwischen tauchen Millionen von Menschen weltweit mittels MMORPGs in virtuelle Welten ab und agieren miteinander: Der typische Nutzer dieser Spiele verbringt rund 20 bis 30 Stunden pro Woche damit. Ungefähr 20 Prozent dieser Spieler glaubt wirklich daran, dass die virtuelle Welt die für sie wirkliche, relevante und reale Welt ist. Die Nutzungsrate dieser Spiele verdoppelt sich praktisch alle zwei Jahre. Wie viele Spieler partizipieren, kann nicht gesagt werden, da die verfügbaren Schätzungen auf Abonnementzahlungen beruhen, die meisten Spieler aber keine Abonnements haben dürften. Konservative Schätzungen für das Jahr 2020 gehen weltweit von einer Bevölkerung dieser synthetischen Welten von rund 100 Mio. Teilnehmern aus.

Entscheiden sich Menschen somit, ihre Zeit vermehrt in synthetischen Welten zu verbringen und dort digitale Güter zu konsumieren und zu produzieren und nicht reale Güter, so hat dies Rückwirkungen auf die Arbeitsmärkte und das reale Bruttoinlandsprodukt sowie auf das Zusammenleben: Interaktion mit Online-Freunden nimmt Zeit für die Interaktion mit Offline-Freunden. Denn die Zeitallokation der Menschen verändert sich hierdurch stark. Treiber der Emigration könnten nicht zuletzt die Lohndifferenzen zwischen realer und virtueller Welt sein. Geringverdiener könnten daher eher in synthetische Welten emigrieren als Besserverdienende, weil diese mehr zu bieten haben als die reale Welt.

Virtuelle Realität verlockender als echte

Möglicherweise werden Menschen die in synthetischen Welten vorherrschenden Prinzipien der Chancengleichheit auch für die reale Welt einfordern. Verändert sich dadurch die Sozialpolitik? Und ist das Bruttoinlandsprodukt damit noch ein taugliches Konzept, wenn mehr Zeit für synthetische Welten geopfert wird, weil diese mehr Glücksgefühle bereiten als reale Welten? Simulationstechniken in virtueller Realität könnten auch beim Politikdesign zunehmend verwendet werden, um die Konsequenzen von Politik zu durchdenken. Allerdings könnte irgendwann einmal auch der Punkt kommen, an dem synthetische Welten reguliert werden (müssen), weil ihr Einfluss zu groß wird. Ein Fakt, den die meisten Eltern von der Erziehung ihrer Kinder sicherlich kennen dürften…