Auch schwierige Zeiten bieten Chancen für Anleger

Das vergangene Jahr markierte einen Einschnitt an den Kapitalmärkten. Bleibt das Marktumfeld 2023 unsicher? Dr. Frank Wohlgemuth, Leiter Research von der NATIONAL-BANK, analysiert die Entwicklungen und verrät, warum auf Besserung gehofft werden darf.


Aktien
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Das Aktienjahr 2022 wird als eines der herausforderndsten in die Börsengeschichte eingehen. Bestand zunächst die Hoffnung, dass die negativen Implikationen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft sukzessive ihren Schrecken verlieren werden, wurde COVID-19 Ende Februar durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Hauptbelastungsfaktor für die Aktienmärkte abgelöst.

Seitdem ist nichts mehr so, wie es war. Galoppierende Inflationsdaten und Sorgen vor einem Gasnotstand führten allenthalben zu hohen Unsicherheitsgraden. Darüber hinaus ist die Pandemie alles andere als überwunden, wie man besonders an den momentanen Infektionswellen in China beobachten kann. Die Notenbanken wurden 2022 massiv unter Druck gesetzt, die Leitzinsen signifikant zu erhöhen, um der Inflation Einhalt zu gebieten. So erhöhte die US-Notenbank ihren Leitzins innerhalb weniger Monate von null auf eine Spanne von 4,25 bis 4,5 Prozent. Auch die Europäische Zentralbank initiierte eine Zinswende.

Der rasante Erhöhungskurs blieb für die Aktienmärkte naturgemäß nicht folgenlos, gewannen die Renditen der Alternativen zur Aktienanlage doch massiv an Attraktivität. Die Jahrestiefstkurse wurden Ende September 2022 erreicht, seither haben diese wieder deutlich zugelegt. Erschwerend kam im Anlagejahr 2022 hinzu, dass auch die Rentennotierungen aufgrund der anziehenden Renditen markant gefallen sind, sodass es für Investoren schwierig war, sich vor fallenden Kursen zu schützen.

Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft

An den Aktienmärkten wird die Zukunft gehandelt, so ein Börsenmantra. Aktuelle Belastungen rücken im Bewusstsein der Investoren in der Regel in den Hintergrund, wenn es berechtigte Hoffnungen auf eine baldige Verbesserung der Lage gibt. Laut Einschätzung der NATIONALBANK bestehen diese berechtigten Hoffnungen für die globalen Aktienmärkte im Anlagejahr 2023: Der Zinserhöhungspfad der Notenbanken sollte weitgehend beschritten sein, die Lieferkettenproblematik sich nahezu normalisieren und damit der Druck auf die Inflationsdaten sukzessive nachlassen.

Zudem sollten durch die Abkehr der chinesischen Regierung von der Null-Covid Strategie starke Impulse ausgehen. Diese Umkehr dürfte spürbare Nachholeffekte in der Wirtschaft auslösen und somit zu deutlichen Wachstumsimpulsen für die Weltwirtschaft insgesamt führen. Folglich kann man zuversichtlich sein, dass die Aktienmärkte 2023 im Fahrwasser wieder sinkender Zinsen an Fahrt aufnehmen. In diesem Umfeld ist es gut vorstellbar, dass die im Jahr 2022 arg gebeutelten Technologiewerte eine Renaissance erfahren werden.

Zudem sollten Unternehmen mit überzeugendem Geschäftsmodell und einer konstanten Ausschüttungspolitik weiterhin in einem international und segmentspezifisch diversifizierten Aktiendepot ausreichend dotiert werden. Gerade zyklische Werte sollten in Erwartung eines sich verbessernden Umfeldes im Jahr 2023 wieder eine stärkere Berücksichtigung in Anlegerdepots erfahren. Diese sind in 2022 mit erheblichen Bewertungseinbußen bestraft worden, obwohl sich ihre Umsatz- beziehungsweise Gewinnsituation grundsätzlich robust gezeigt hat. Zudem ist die Dividendenrendite einer Vielzahl von zyklischen Werten gerade aus dem Automobilsektor oder Energiebereich attraktiv.

US-Anteil im Depot stärker ausbauen

Von der Bewertungsseite betrachtet ist der breite US-Aktienindex S&P 500 trotz der Kursverluste weiterhin merklich höher bewertet als DAX und EuroStoxx 50. Die USA werden dauerhaft von ihrer nahezu vollständigen Energieautarkie profitieren. Eine Anlageempfehlung der NATIONAL-BANK lautet deshalb auch, den US-Anteil im Depot noch stärker auszubauen, trotz der momentanen relativen Stärke der europäischen Indizes. Die Geopolitik als Belastungsfaktor für die Kapitalmärkte hat 2022 stark an Signifikanz hinzugewonnen.

Das ist insbesondere am Verhältnis zwischen den USA und China erkennbar, welches inzwischen überwiegend durch Gegnerschaft gekennzeichnet ist. Symbolhaft dafür gelten die neuen US-Exportbeschränkungen für die Halbleiterindustrie, die gravierende Folgen für die chinesische Seite haben werden. So wird die Reichweite der Maßnahmen, mit denen Chinas technologische und militärische Fortschritte eingedämmt werden sollen, beträchtlich erweitert. Hinzu kommt der russische Angriffskrieg in der Ukraine, der viele Annahmen über die europäische Nachkriegsordnung und über „funktionierende Abhängigkeiten“ – gerade im Energiesektor – pulverisiert hat.

Auch die Belastungen, die mit der sukzessiv zunehmenden Polarisierung in der US-Innenpolitik einhergehen, treten immer stärker in den Vordergrund. Eine Schwächung der USA von innen heraus wäre jedoch fatal. Der Krieg in der Ukraine hat eindeutig gezeigt, dass ohne die politische Führerschaft der USA eine angemessene Antwort auf das russische Machtstreben kaum möglich erscheint.

Decoupling als Bedrohung für Globalisierung

Ist mit den unheilvollen Entwicklungen der letzten Jahre das Ende der Globalisierung eingeläutet worden? Mitnichten. Die Globalisierung zeigte sich selbst im Krisenjahr 2022 sehr robust. Eine Strukturveränderung findet momentan nur dergestalt statt, dass sich die Globalisierung stärker als früher auf den Dienstleistungssektor und dort besonders auf den grenzüberschreitenden IT Dienstleistungsverkehr verlagert. Das mitunter verbreitete Bild der De-Globalisierung ist daher grundlegend falsch.

Jedoch ist mittlerweile der Konkurrenzkampf zwischen den USA und China zu einem Leitbild des Wettkampfes um Einflusssphären geworden. Dabei werden Fragen der Technologieentwicklung und -nutzung stellvertretend als Ausdruck des systemischen Wettbewerbs zwischen den USA und China verstanden. Dieses „Decoupling“ der größten Volkswirtschaften der Welt stellt für die Globalisierung eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Vor dem Hintergrund dringend benötigter Wachstumsimpulse für die chinesische Wirtschaft ist in nächster Zeit aber keine weitere Verschärfung dieses systemischen Konfliktes zu erwarten.

Es wäre auch angesichts der Vorteile der Globalisierung äußerst kontraproduktiv: Geringere Kosten für Waren und Dienstleistungen, gestiegene Lebensstandards für breite Bevölkerungsschichten, Impulse zu gesteigerter Kreativität und Innovation durch stetige Optimierungsprozesse sowie einen leichteren Zugang zu anderen Kulturen durch grenzüberschreitende Arbeitsverlagerungen belegen deren Vorteilhaftigkeit. Weiterhin erscheinen die Künstliche Intelligenz, der Gesundheitssektor und erneuerbare Energien als Zukunftsthemen aussichtsreich. Diese Themenfelder sollten dauerhaft und aller geopolitischen Volten zum Trotz ihre Vorteilhaftigkeit behalten.

Dr. Frank Wohlgemuth

NATIONAL-BANK AG

Dr. Frank Wohlgemuth ist Leiter Research der NATIONAL-BANK AG.

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