Die Kurse von festverzinslichen Staatsanleihen sind im Jahr 2022 in allen Industrieländern gesunken. Eine Ausnahme stellt dabei Japan dar. Seit Jahresbeginn 2022 weisen Staatsanleihen die Verluste von 16,1 Prozent in den USA, 22,5 Prozent in Italien und 18,9 Prozent in Deutschland auf. Bei Unternehmensanleihen bewegen sie sich in einer ähnlichen Größenordnung.
Die im Rahmen der quantitativen Lockerung der Zentralbanken erworbenen Anleiheportfolios von 4,94 Billionen Euro im Euroraum und 8,2 Billionen US-Dollar in den USA würden damit bei Marktbewertung ebenfalls erhebliche Verluste aufweisen.
Verluste zehren nicht zwangsläufig das Eigenkapital von Zentralbanken auf, da sie für diesen Fall gewisse Rücklagen gebildet haben. Zudem kommt es darauf an, wie Zentralbanken Wertpapieranlagen in ihrer Bilanz verbuchen. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) beispielsweise bewertet sie zu den aktuellen Marktpreisen.
Dies hat in den ersten neun Monaten 2022 zu Kursrückgängen von 142 Milliarden Schweizer Franken geführt, was 70 Prozent der gesamten Reserven der SNB oder zwei Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die US-Notenbank verbucht Anleihen zu aktuellen Marktpreisen, lässt aber negative Reserven zu, sodass sie ihr Eigenkapital nie abschreiben muss.
Operative Verluste wahrscheinlich
Im Eurosystem – das heißt bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen Zentralbanken des Euroraums – werden Anleihen zu (amortisierten) Anschaffungskosten bewertet. Marktwertrückgänge werden daher nicht sofort sichtbar, es sei denn, die EZB beschließt, Anleihen zu verkaufen. Dies schützt die Bilanz zwar vor der außerordentlichen Marktvolatilität, die wir derzeit erleben, hat aber auch einen Nachteil:
Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem positiven Zinssatz, den das Eurosystem für die Einlagen der Geschäftsbanken zahlt, und den extrem niedrigen Renditen, zu denen in den letzten Jahren Anleihen gekauft wurden. Bei den aktuell steigenden Zinsen sind operative Verluste für die nächsten Jahre damit fast garantiert. Die Kapitalanteile an der EZB gehören den nationalen Zentralbanken, sodass etwaige Gewinne oder Verluste der EZB an diese ausgeschüttet werden würden.
Die meisten Anleihekäufe des Eurosystems wurden jedoch von den nationalen Zentralbanken getätigt und werden auf deren Konten verbucht. Das bedeutet, dass in erster Linie nicht die Profitabilität der EZB, sondern die der nationalen Zentralbanken im Euroraum gefährdet ist.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn die auflaufenden Verluste der nächsten Jahre das Eigenkapital mancher Zentralbanken übersteigen. Wäre das problematisch? Die Standardantwort lautet „nein“. Es gibt eine Reihe von Zentralbanken, die mit negativem Eigenkapital arbeiten, ohne dass dies Auswirkungen auf ihre Geldpolitik hat. Es ist damit auch nicht notwendig, dass Zentralbanken von den Finanzministerien sofort wieder rekapitalisiert werden.
Der Grund dafür ist einfach: Zentralbanken können gesetzliche Zahlungsmittel herausgeben, sie haben sogar das Monopol dazu innerhalb ihres Währungsraums. Das bedeutet, dass sie sich im Gegensatz zu allen anderen Anlegern keine Sorgen um die Liquiditätsrisiken ihrer Vermögenswerte machen müssen. Zur Not können sie jederzeit ihre eigene Liquidität schaffen, indem sie ihre Bilanz ausweiten. Auch Ausfallrisiken spielen bei Zentralbanken keine Rolle.
Dies liegt daran, dass sie strukturell profitabel sind: Zentralbanken zahlen normalerweise keine oder nur sehr niedrige Zinsen auf ihre Verbindlichkeiten (Banknoten und Bankreserven), während sie durch das Halten von Vermögenswerten mit längeren Laufzeiten (in der Regel Anleihen) höhere Zinsen erzielen können. Über einen längeren Zeitraum werden Zentralbanken daher immer Gewinne erzielen. Sie können sich somit selbst rekapitalisieren.
Nur in einer Situation ist ihre strukturelle Rentabilität gefährdet – wenn die Marktzinsen dauerhaft negativ sind. Investitionen auf der Aktivseite ihrer Bilanz würden dann Kosten verursachen, während auf der Passivseite die von der Zentralbank ausgegebenen Banknoten zinsfrei wären.
EZB unter Druck
Aber warum sollte man sich um die aktuellen Zentralbankverluste kümmern, wenn sie sich nach ein paar Jahren selbst rekapitalisieren können? Zunächst sind sie als öffentliche Einrichtungen ihren Parlamenten gegenüber rechenschaftspflichtig. Aus diesem Grund treten beispielsweise die Präsidenten der EZB regelmäßig vor dem Europäischen Parlament auf. Zudem werden ihre Gewinne oder Verluste indirekt von der Allgemeinheit getragen.
Wenn Zentralbanken die Staatskassen füllen, ist dies kein Problem. Die einzige kritische Frage an sie ist, warum sie nicht mehr auszahlen. Sollten diese Ausschüttungen aber ausbleiben und der Eindruck entstehen, dass Zentralbanken Steuergelder verschwenden, könnte der Gegenwind zunehmen. Populistische Politiker könnten dann ihre Unabhängigkeit infrage stellen.
Im Extremfall könnte man sie unter Druck setzen, Staatsanleihen zu kaufen, um so beispielsweise die Herausforderungen des Klimawandels, des demografischen Wandels oder die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben zu bewältigen.
Letztlich werden die Reputation und die Stellung der Zentralbanken auch von den nationalen Umständen abhängen und aktuell vermutlich auch davon, mit wie viel Kosten es verbunden sein wird, die Inflation wieder auf zwei Prozent zu senken. Vor allem die EZB könnte stark unter Druck geraten. Die Wirtschaft wird im nächsten Jahr wahrscheinlich schrumpfen, die Inflation noch einige Zeit weit über dem Zielwert liegen, während der Euro stark an Wert verloren hat.
Manch einer mag sich in diesem Umfeld fragen, was die EZB denn richtig macht, wenn sie gleichzeitig auch noch so schlecht investiert hat. Das wäre sicherlich unfair, da es der EZB wie auch anderen Zentralbanken hoch anzurechnen ist, dass sie mit ihrem entschlossenen Handeln gleich zu Beginn der Corona-Pandemie eine längere Wirtschaftskrise abgewendet haben.
Erfolge und verhinderte Katastrophen werden mit der Zeit aber leicht vergessen, wenn neue Herausforderungen am Horizont erscheinen. Für die EZB wäre es wichtig, ihre Bilanzrisiken zu reduzieren. Sie sollte daher möglichst schnell aufhören, die auslaufenden Anleihen ihrer Wertpapierportfolios zu reinvestieren. Und bei zukünftigen Krisen könnte sie unter Umständen die Kosten und den Nutzen des massiven Ankaufs von Staatsanleihen etwas vorsichtiger bewerten.
TIPP: Sie möchten gerne weitere Marktkommentare lesen? Dann erfahren Sie hier mehr zur Europäisierung der Neo-Broker oder hier mehr zur Talfahrt des Euros.