„Wir sollten neue Kunden zuerst überzeugen, bevor wir sie zu Mitgliedern machen“

Carsten Jung ist Vorstandsvorsitzender der größten Volksbank in Deutschland. Trotzdem gilt für ihn in vielen Bereichen das Motto „Weniger ist mehr“. Im Interview spricht er über das Revival der Mitgliedschaft, die Priorisierung von Kundengruppen und darüber, warum sieben Produkte ausreichend sind.


Bild unten: Berliner Volksbank

BANKINGNEWS: 2019 haben Sie den Vorstandsvorsitz der Berliner Volksbank übernommen. Kurz darauf kamen Coronakrise, Ukrainekrieg, hohe Inflation, Energiekrise und Lieferengpässe. Wie sind Sie mit den Herausforderungen umgegangen?
Carsten Jung: Es sind wirtschaftlich herausfordernde Zeiten. Allerdings bin ich bereits seit 2008 Vorstandsmitglied, habe also alle Entscheidungen der Vergangenheit mitgetragen. Schon 2019 haben wir die Grundsatzfrage gestellt, ob wir in Zukunft so zusammenarbeiten wie bisher. Im Vorstandsteam haben wir entschieden, dass ein Arbeitsschwerpunkt auf der Unternehmenskultur liegen soll. Seit 2018 finden jährlich Befragungen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter statt, um festzustellen, wie sich Unternehmenskultur, Teamgeist und Resilienz entwickeln. Damit haben wir uns für die darauffolgenden Krisen eine gute Ausgangsbasis verschafft. Unternehmenskultur ist immer auch eine Frage der Veränderungsbereitschaft und der Verhandlungsfähigkeit des Teams. Beides haben wir gut entwickelt.

Sie haben Ihre Cost-Income-Ratio in 2021 im Vorjahresvergleich um knapp vier Prozent verbessert. Wie sieht es in 2022 aus?
Wir erwarten nach unserer Prognoserechnung für 2022 eine CIR von unter 60 Prozent. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass wir sehr früh angefangen haben, uns Gedanken über die Arbeitsstrukturen, das Standortnetz und die Personalkosten zu machen – manchmal früher als der Wettbewerb. Und jetzt spüren wir die Vorteile.

Kosteneinsparungen sind das eine, aber wie sieht die Ertragsseite bei Ihnen aus?
Das eine ist die Basis und das andere resultiert daraus. Zum Beispiel haben wir uns im Filialgeschäft massiv mit der Frage beschäftigt, welche Leistungen wir anbieten. Da gilt das Motto „Weniger ist mehr“, und Kunden haben es trotzdem positiv quittiert. Man muss sich fragen, ob man sein Leistungsspektrum nicht genauer beschreiben kann. Und daraus resultiert, dass wir manche Dienstleistungen nicht mehr brauchen. Wir sind traditionell eine vertriebsstarke Bank, sind wir immer schon gewesen. Das hat sie auch 2022 und in den Jahren zuvor widergespiegelt. Wir haben einerseits Kosten reduziert, konnten andererseits unsere Erträge von bestehender Basis aus steigern. Das richtige Maß muss man dann immer noch finden.

In Zukunft wird Bankgeschäft allein nicht mehr unbedingt ausreichen

Die Genossenschaftsbanken haben ein Alleinstellungsmerkmal, und zwar die Mitglieder. Sie hatten ein kleines Wachstum der Mitgliederzahlen in 2021. Gibt es ein Revival der Mitgliedschaft?
Vor etwa zehn Jahren haben wir angefangen, das Thema Mitgliedschaft wieder in den Vordergrund zu stellen. Wir sind bei rund 108.000 Mitgliedern gestartet und haben seitdem über 100.000 Mitglieder dazugewonnen. Die Zielstellung sind 300.000 Mitglieder. Gleichwohl bleibt die Frage, wie man die Mitgliedschaft transportieren kann. Transportiert man sie nur über die Dividende oder gibt es Mehrwerte, die man darüber hinaus bieten muss? Eine Genossenschaft ist ja nichts anderes als eine Community, wie man sie aus dem Netz kennt. Unsere Aufgabe ist es daher, dies auf die Berliner Volksbank und den Aspekt der Mitgliedschaft zu übertragen und anzuwenden. Wie und auf welchen Kanälen überzeugt man heute, insbesondere auch junge Menschen, davon, Mitglied zu werden? Ich glaube, wir machen das gut, aber da geht noch mehr.

Die Sparkassen haben kein Mitgliedermodell, aber gerade erfolgreich ein MehrwertPortal aufgebaut.
Das gibt es in der genossenschaftlichen Gruppe auch schon, heißt „MeinPlus“. Nur wenn man diese Mehrwerte über eine App anbietet, muss man sich auch fragen, ob man genügend Content über diese Kanäle spielen kann. Dort steht man im Wettbewerb mit Amazon oder Zalando. Und Content auf der Ebene und in dem Wettbewerb liefern kostet viel Geld. Ich werbe stark dafür, die Reihenfolge zu ändern. Wir sollten zuerst neue Kunden überzeugen, bevor wir sie zu Mitgliedern machen. Wir wollen weiterhin Neukunden gewinnen und im Gewinnungsprozess überzeuge ich bestenfalls auch durch die genossenschaftliche Idee. Und ich glaube, der Erkenntnisprozess kommt in der Gruppe gerade an.

Passt die Mitgliedschaft in Ihre Idee von zukunftsorientiertem Banking?
Ich denke schon. Die Frage ist, in welchen Lebenswelten ich ein Angebot mache. Meine These ist, dass wir als Genossenschaftsbank dann gut sind, wenn wir Zugangswege oder Kanäle organisieren können, die der Kunde nicht selbst organisieren kann. Ein Beispiel ist die Pflege. Viele von den Kunden, die in die Pflegefrage kommen, sind total überfordert. Aber können wir das als Bank nicht gegebenenfalls mitorganisieren? Immer da, wo wir es unseren Mitgliedern erleichtern können, einen Zugang zu bekommen, haben wir eine echte Chance. Auch bei erneuerbaren Energien kann das ein Ansatz sein. Wenn wir uns darauf konzentrieren, Zugänge für unsere Mitglieder zu organisieren und uns nicht fragen, wie wir das bessere Amazon sein können, würde das die Mitgliedschaft aufwerten. Sie funktioniert dann jenseits von Dividende oder Kontomodellen. Und das muss unser Ziel sein.

Mitgliederzahl erhöht, Cost-Income-Ratio gesenkt, auch bei den Kundenkonten gab es 2021 einen Rückgang. Ist dies eine Folge des starken Wettbewerbs?
Nicht ausschließlich, sondern in Teilen auch eine bewusste Entscheidung von uns: Bestimmte Kundengruppen haben wir als weniger profitabel eingestuft und in Kauf genommen, dass wir mit unseren Preismodellen den einen oder anderen Kunden verlieren. Denn ich möchte ja alle gut betreuen und will mit meiner guten Beratungsleistung auch einen Ertrag generieren. Jetzt haben wir unser Leistungsangebot gesteigert und viele Hausaufgaben erledigt, sodass wir aktuell den Schalter wieder umlegen können und Neukunden wieder stärker in den Vordergrund rücken.

Sie haben vorhin die Filialstruktur angesprochen, haben sich aber auch digitaler aufgestellt. Wie sieht bei Ihnen das Zusammenspiel aus digital und persönlich aus?
Wir haben entschieden, dass wir sichtbar bleiben wollen, sonst verlieren wir unsere Genese. Also haben wir uns intensiv mit unserem Filialnetz, konkret mit den Standorten und dem Leistungsangebot beschäftigt. In unseren klassischen Filialen gibt es heute nur noch sieben Produkte, alle relativ einfach abschließbar. Als letzten Schritt haben wir das digitale Angebot und den stationären Vertrieb in einer Einheit zusammengebracht, sie heißt „Just Banking“. Damit habe ich ein Leistungsangebot, das über jeden Kanal funktioniert. Egal ob der Kunde über das Internet, das Telefon oder die Filiale kommt: Es sind immer die gleichen Prozesse. Im besten Fall könnte ich dann sogar die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlich einsetzen.

Das Thema ESG bei den Bestandsfinanzierungen wird kommen

Sieben Produkte klingt nach wenig.
Es ist auch wenig. Und wir haben lange über die Auswahl diskutiert. Der größte Knackpunkt waren die Altprodukte, bei denen man noch eine Nach-Beratung machen muss. Heute kommt das Leistungsangebot mit sieben, perspektivisch vielleicht auch acht, Produkten aus. Das hält Kosten und Strukturen im Griff. Immer wenn wir eine Leistung versprechen, sind wir auch lieferfähig. Welche Produkte braucht man wirklich? Komplexität reduzieren hilft beiden Seiten. Denn je komplexer ein Prozess, desto höher wird die Abbruchrate. Und deswegen sind unsere sieben Produkte alle substituierbar. Den einzigen Teil, den wir noch selbst machen müssen, ist der Genossenschaftsteil. Alles andere kann im Zweifelsfall ein Dritter unter dem Label Berliner Volksbank anbieten.

Wahrscheinlich ist es in der heutigen Zeit sogar kontraproduktiv, alles selbst zu machen.
Was für mich zählt, sind Lieferversprechen bei gleichzeitiger Lieferfähigkeit. Ich kann unheimlich viel versprechen, bin aber sofort in einer schwierigen Situation, wenn ich dann nicht liefern kann. Erst wenn diese beiden im Einklang sind, habe ich zufriedene Kunden. Für begeisterte Kunden wiederum brauche ich noch etwas anderes. Deswegen glaube ich weiterhin: reduzieren, einfach machen, schlank halten.

Auch im Immobilienbereich sind Sie umtriebig. Wie hat sich die Erhöhung der Bauzinsen auf den Geschäftsbereich ausgewirkt?
Ein Schwerpunkt dieser Bank ist die gewerbliche Immobilienfinanzierung mit dem Fokus auf Wohnungsbau. Wir haben weniger die Logistik, weniger die Einzelhandelsthemen, sondern vielmehr die Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsbaugenossenschaften als Kern. Das Geschäft ist bei uns im letzten Jahr noch rekordmäßig ausgelaufen. Natürlich spricht der erhöhte Zinssatz eher dagegen, dass momentan investiert wird. Angebot und Nachfrage müssen sich wieder ein bisschen anpassen. Aber man sieht schon, dass wieder Baukapazitäten vorhanden sind. Da sind eher die Lieferketten das Problem. Die Materialien sind teurer geworden. Aber das Geschäft wird für uns weiterhin attraktiv bleiben.

Solange wir die Kundenschnittstelle halten, wird es Banken noch geben

Energetische Modernisierung ist auch ein großes Thema, oder?
Absolut. Das Thema ESG bei Bestandsfinanzierungen wird kommen. Das weiß man heute schon. Im Wohnungsbau gibt es ein Zehn-StufenModell und in dem Zehn-Stufen-Modell werden die CO2- Kosten unterschiedlich verteilt. In zahlreiche Immobilien muss in Zukunft noch investiert werden. Zum Beispiel ist ein Großteil der Büro-Immobilien in Deutschland nicht ESG-konform. Große Corporates dürfen künftig nur noch ESG-konforme Immobilien anmieten. Da wird erheblicher Druck in die Sanierung der Bestände kommen. Und es gibt noch ein paar Themen, die zu klären sind. Ist man Stromhändler, wenn man eine Photovoltaikanlage aufs Dach stellt? Ist man plötzlich gewerblich tätig? Aber der Gesetzgeber hat es meines Erachtens erkannt, das wird tatsächlich geregelt und dann auch kein Hemmschuh mehr. Seit etwa zehn Jahren definieren wir erneuerbare Energien als einen wichtigen Bereich. Da haben wir etwa eine Milliarde investiert und finanziert, was Photovoltaik, Heizungen, Ladesäulen oder Windkraft anbelangt. So sind 175 Windräder hinzugekommen. Die stehen natürlich nicht alle nur in Berlin – können sie ja gar nicht. Und wir haben in den letzten Jahren stark in Contracting-Modelle investiert, also dort, wo Einfamilienhausbesitzer eine Solaranlage mieten, wird eine Vielzahl von Solaranlagen gebündelt und refinanziert. Wir arbeiten mit ENPAL und thermondo zusammen und haben in den letzten Jahren 15.000 Haushalte auf erneuerbare Energien umgestellt. Mittlerweile gibt es eine ganze Menge an Geschäft, was rund um das Thema erneuerbare Energien und in der Energiewende finanziert werden kann.

Kommt es so zu einer Diskriminierung von Projekten, die nichts mit ESG zu tun haben?
Ich glaube, dass eine Investition im Prüfprozess einer Bank ab jetzt wahrscheinlich immer unter den ESG-Kriterien mitlaufen wird. Den Eindruck, dass andere Projekte vernachlässigt werden, habe ich momentan nicht. Aber ich bin auch nicht der Meinung, dass wir eine regulatorische Vorgabe gebraucht hätten. Denn es ist ja so, dass wir unsere Kunden immer zu ihrer Zukunftsfähigkeit fragen und uns dabei auch ein Bild darüber machen, wie die Lieferkette aussieht und wie die Energieversorgung ist. Das ist systemimmanent, denn ich möchte ja sicherstellen, dass mein Kreditnehmer auch die Kreditmittel zurückzahlen kann. Insofern ist es weiterhin gut, dass wir da investieren. Man schätzt, dass durchschnittlich 72 Milliarden pro Jahr investiert werden müssen, um 2045 klimaneutral zu sein. Ich vermute, es ist noch mehr. Am Ende dieser Kette muss das natürlich jemand bezahlen.

Eine gute Erweiterung der Geschäftsbereiche von Banken.
Genau. Meine These ist immer gewesen, dass Bankgeschäft allein in Zukunft nicht mehr unbedingt ausreichen wird. Sondern wir werden Leistungen hinzunehmen müssen, wie die auch immer definiert werden. Ich glaube weiterhin, dass wir über Kooperation oder eine Minderheitsbeteiligung Zugänge sicherstellen sollten. Und ich denke, da wird sich eine Bank auch anders entwickeln müssen. Insbesondere weil im Privatkundengeschäft heute viele Wettbewerber auf vielen Produkthemen sitzen. Unsere Hauptaufgabe wird es immer sein, mit einer Leistung die Kundenschnittstelle zu besetzen. Solange wir die Kundenschnittstelle halten können, wird es Banken auch in der Zukunft geben.


Interview: Thorsten Hahn und Laura Kracht

Tipp: Sie möchten weitere interessante Vorstandsinterviews lesen? Hier unterhalten wir uns mit Kristin Seyboth von der Bausparkasse Schwäbisch Hall oder lesen Sie hier das Interview mit Andreas Schulz von der Mittelbrandenburgischen Sparkasse.